Der große Stau

Auf der Autobahn ist es gewesen. Ein riesiger Stau von fast 20 Kilometern, und darin eingeschlossen in der brütenden Sommerhitze mein Freund Hans.
Da, so sagt Hans heute, sei etwas Merkwürdiges mit ihm vorgegangen. Wie eine Erleuchtung sei es über ihn gekommen und er wusste mit einem Schlag, dass die wahre Berufung seines Lebens die Stauforschung sei. Und wie sich andere an ihren freien Tagen mit Briefmarkensammeln, Bibellesen oder Gruppensex die Zeit vertreiben, so nutzt der Hans seitdem jede freie Minute, um auf den deutschen Autobahnen den Stauwarnungen des Verkehrsfunks hinterherzufahren.
Denn damals im Stau sind Fragen in ihm aufgetaucht, auf die er keine Antwort wusste. Fragen, die für Hans von existentieller Wichtigkeit wurden. Wann ist ein Stau ein Stau? Hat Gott zuerst den Stau erschaffen oder den Menschen? Und was hat sich Gott dabei gedacht? Und ist der Stau nicht ein Wesentliches der menschlichen Existenz?
Hans sprach mit vielen Leuten über dieses Thema, aber niemand konnte ihm auf seine Fragen zufriedenstellende Antworten geben. Und erschrocken stellte er fest, dass die etablierte Wissenschaft sich bisher nicht einen Deut um den Stau gekümmert hat. Verdauungsstörungen beim Regenwurm, das ja, aber die Frage nach dem Urstau?
Die fand der Hans in keinem wissenschaftlichen Werk. Und er hat mit eigenen Forschungen angefangen, diese so wichtige Lücke zu schließen.
Aber was ist für Hans das Faszinierende am Phänomen Stau? Um eine Antwort ist unser Amateurforscher nicht verlegen. Der Stau, so führt Hans aus, sei eine der letzten Möglichkeiten in unserer verwalteten und technisierten Welt, wo der Mensch noch eine echte Extremsituation erlebe, wo er das Unwägbare, das Gefährliche der menschlichen Existenz begreifen könne.
Eben war die Autobahn noch frei und man ist mit 180 Sachen und einem wahren Glücksgefühl dahingebraust, aber eine Minute später kann schon alles anders sein. Eingeschlossen ist man, neben einem Autos, vor einem Autos, hinter einem Autos, überall Autos und in ihnen fremde Menschen hinter Sonnenbrillen, die unbeteiligt ins Leere blicken.
Das eigentliche Thema der wissenschaftlichen Forschung von Hans ist der Superstau. Nach seinen Berechnungen wird er im Jahre 2014 stattfinden. Da werden, wie auf ein geheimes Zeichen, an einem Sonntagmorgen alle Autofahrer ihre Wohnungen verlassen, werden ihre Sonnenbrillen aufsetzen und losfahren, immer weiter werden sie fahren. Und dann wie aus dem Nichts wird er da sein: der Superstau. Zwischen den Alpen und der Nordsee eine riesige Blechkarawane, das ganze Land ein einziger Stau.

 
Über mich
Gedichte, Satiren und Sonette von dem Autor Gunnar Schuberth
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